
Verbotene Medizin
Veröffentlicht am Montag, 4. April 2016 im Luxemburger Wort
Von Michel Thiel
Das Wissen um den pharmazeutischen Nutzen des Cannabis ist so alt wie die Zivilisation. Die ältesten bekannten Erwähnungen der Pflanze finden sich in einem rund 3500 Jahre alten ägyptischen Papyrus, wo es als Mittel gegen eingewachsene Zehennägel erwähnt wird. 2737 vor Christus preist der chinesische Kaiser Shen Nung Haschisch, das Harz der Cannabispflanze, unter anderem als Mittel gegen Malaria, Rheumatismus und Gicht an. Ein Wissen, das mit den Kreuzzügen ins Abendland kam und Einzug in die Volksmedizin hielt.
Vom Volksheilmittel zum „Teufelskraut"
Auch die beru?hmte A?btissin und Heilkundlerin Hildegard von Bingen wusste um die heilsamen Kra?fte des indischen Hanfs, dessen Konsum seit Mitte des 20. Jahrhunderts und bis heute in den meisten La?ndern mit hohen Strafen belegt ist. Ein Umstand, der um so erstaunlicher ist, da Cannabiserzeugnisse im 19. Jahrhundert als Basis fu?r mehr als 2000 medizinische Pra?parate genutzt wurde und damit ebenso verbreitet war wie etwa heute Aspirin.
Alkoholische Tinkturen aus Cannabisblu?ten oder Haschisch, dem Harz der Pflanze also, waren bis in die 1930er Jahre den meisten Menschen als Medizin wohl bekannt und wurden in einer Zeit, in der es noch kaum synthetische Arzneimittel gab, häufig zur Linderung zahlreicher Beschwerden genutzt. Dies änderte sich schlagartig, als der US-Medienmogul William Randolph Hearst in den 1930er Jahren im Rahmen einer beispiellosen Desinformationskampagne damit begann, die altbekannte Hanfpflanze als eine neuartige, gefährliche Droge zu porträtieren. Ein gezielter Lobbyismus, denn aus heutiger Sicht ist klar, dass Industrielle wie Hearst und die Chemiefirma DuPont eine wirtschaftliches Interesse an der Illegalisierung des Cannabis hatten, das als Konkurrenzprodukt zu Papier aus Holz und synthetische Fasern aus Erdöl galt.
Die Renaissance des medizinischen Cannabis
Als Ironie der Geschichte erscheint die Tatsache, dass die USA, die vor rund 80 Jahren den Startschuss zur Prohibition gaben, heute an vorderster Front der Cannabisrenaissance stehen. Obschon die Droge auf Bundesebene nach wie vor verboten ist, haben mittlerweile 35 von 50 Bundesstaaten die medizinische Nutzung von Cannabis unter mehr oder weniger strengen Auflagen freigegeben.
Auch in Europa haben eine Reihe von Staaten diesen Weg bereits ein- geschlagen. In Deutschland wurde 2007 erstmals eine Ausnahmegenehmigung zum medizinischen Besitz von Cannabis ausgestellt, auch wenn die Repression auf Bundesebene und in einigen Ländern ungebremst anhält. Auch in Belgien, den Niederlanden, Spanien, Italien, Finnland, Portugal, der Tschechischen Republik, Israel, Kanada, Großbritannien und Neuseeland ist der medizinische Einsatz von Cannabis oder dessen Wirkstoffen unter mehr oder weniger strengen Auflagen erlaubt.
Dass Cannabis im Großherzogtum nach wie vor eher als Rausch- denn als Heilmittel angesehen wird, musst der Luxemburger Arzt und ehemalige Abgeordnete Jean Colombera 2012 erfahren, als am Bezirksgericht Luxemburg ein Prozess gegen ihn stattfand. Colombera, der als langjähriger Verfechter des medizinischen Einsatzes von Cannabis gilt, war angeklagt worden, da er laut Staatsanwaltschaft zwischen 2008 und 2011 an mindestens 25 schwerstkranke Patienten eine ärztliche Verordnung ausgestellt hatte, damit diese sich in den Niederlanden die Cannabispra?parate be- schaffen konnten. Colombera wurde von der Bezirksstaatsanwaltschaft Diekirch vorgeworfen, gegen die gesetzlichen Bestimmungen bei der Verschreibung einer gesetzlich kontrollierten Substanz verstoßen zu haben. Mit anderen Worten: er hätte Cannabis zwar durchaus als Medikament verschreiben dürfen, hätte sich jedoch an die strengen Auflagen des Gesundheitsministeriums halten müssen. Diese sehen unter anderem vor, dass eine besondere Genehmigung eingeholt wird, die zudem nur für maximal sieben Tage gültig ist. Colombera hatte dies für seine Patienten als nicht praktikabel angesehen und sich über das Gesetz hinweggesetzt. Stattdessen hatte er seine Ordonnanzen einer niederländischen Apotheke gefaxt und das Cannabis an seine Patienten weiterverteilt.
Colombera kam am Ende mit einer Strafaussetzung („suspension de prononce?“) glimpflich davon, da selbst der Anklagevertreter während des Prozesses die Position vertrat, der Arzt habe in guter Absicht gehandelt. Das Problem sei nicht die Verschreibung von Cannabis als Medizin gewesen, sondern die Nichtbeachtung der Prozeduren.
Cannabispatienten in einer Grauzone
Der Fall Colombera zeigt, dass die Gesetzgebung im Bezug auf medizinisches Cannabis in Luxemburg einer dringenden Reform bedarf. Der derzeitige Gesetzesrahmen er- laubt keine Rechtssicherheit und setzt sowohl A?rzte als auch Patienten der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus. Einerseits erlaubt das Gesetz jetzt schon in Ausnahmefällen die Verschreibung standardisierter Arzneimittel auf Basis von Cannabinoiden. Auf der anderen Seite sind solche Pra?parate in Luxemburg nicht offiziell als Medikamente zugelassen, was eine aufwa?ndige und einschra?nkende Genehmigung erfordert.
Hinzu kommt, das pharmazeutische Pra?parate, die Cannabinoide enthalten, oft nicht so gut wirken, wie die Rohdroge, die aus den getrockneten Blu?tenspitzen der Pflanze besteht. Ein Grund ist offenbar, dass die vielen hundert Inhaltsstoffe der Pflanze sich in ihren Wechselwirkungen erga?nzen und versta?rken – ein Effekt, der mit Extrakten oder synthetischen Pra?paraten nicht zu erreichen ist.
Zudem setzt sich ein Patient, der cannabishaltige Arzneien zu sich nimmt, einer Reihe von Risiken aus. So kann zum Beispiel sein Fu?hrerschein von einer medizinischen Kommission des Ministeriums fu?r Nachhaltigkeit und Infrastrukturen eingezogen werden, falls der Verdacht besteht, dass sein „Drogenkonsum“ einen Einfluss auf seine Fahrtu?chtigkeit hat. Dass solche Verwaltungsentscheidungen jedoch anfechtbar sind, zeigen mittlerweile Urteile des Verwaltungsgerichtshofs, wo in beiden Instanzen Entscheidungen der besagten Kommission aufgrund einer fehlenden Rechtsgrundlage gekippt wurden.
2014 versprachen sowohl Justizminister Fe?lix Braz als auch Gesundheitsministerin Lydia Mutsch eine breite Debatte zur Legalisierung von medizinischem Cannabis. Seitdem herrscht jedoch Funkstille. Die Regierung gibt sich allgemein bedeckt und hofft offenbar auf eine gesamteuropa?ische Lo?sung, die derzeit jedoch als unwahrscheinlich gilt.
Ein Fallbeispiel: „Ich habe es satt, kriminalisiert zu werden“
Das Beispiel von Tom H. (Name von der Redaktion geändert) zeigt, inwiefern Patienten, die sich unter ärztlicher Assistenz mit Cannabis behandeln lassen, in einer rechtlichen Grauzone bewegen, die unter gewissen Umständen ernsthafte strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.
Der heute 33-Jährige leidet an Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS) sowie Schwindelanfällen aufgrund eines Schädeltraumas. „Ich wurde von einem Arzt behandelt, der mir Cannabis als Medizin verschrieb. Das half sehr gut gegen meine Symptome und auch gegen Schlafstörungen, Angstzustände und Depressionen“, so H.
Vor drei Jahren willigte er an seiner Schule ein, einen Drogentest zu machen, der sich als positiv erwies, und seine Probleme mit dem Gesetz begannen. Wenig später wurde er beim „Kiffen“ erwischt. Die Beamten fanden 1,5 Gramm Marihuana, was zu einer Hausdurchsuchung führte, wo weitere 15 Gramm gefunden wurden.
H. flog vorübergehend von der Schule und verlor seinen Führerschein. Es gelingt ihm trotzdem, einen Abschluss als Gärtner zu machen. Er nimmt weiterhin Cannabis zu sich, da er überzeugt ist, dass andere Medikamente ihm nicht helfen. „Ich bekam das in Deutschland ganz legal auf Rezept von einem Arzt aus der Apotheke.“
Er findet einen Ausbildungsplatz und sogar einen Nebenjob, seine Probleme mit der Justiz scheinen der Vergangenheit anzugehören, bis seine eigene Naivität ihm einen Strich durch die Rechnung macht.
H. hört von einem anderen Cannabispatienten, dieser habe seine hohen Ausgaben für medizinischen Cannabis problemlos von der Steuer abgesetzt. Doch der Versuch, es ihm gleich zu machen, läuft bei Tom H. gründlich schief. Der zuständige Steuerbeamte verständigt die Polizei, so, wie es laut Gesetz seine Pflicht ist, wenn er von einer Straftat Kenntnis hat.
H. wird zur Vernehmung geladen und macht den nächsten Fehler: Er gibt seinen Konsum frei zu und liefert den Beamten Informationen, die zu einer erneuten Hausdurchsuchung führen. Die Beamten finden 50 Gramm Marihuana und sieben Cannabispflanzen, die H. gezogen hat, um seine Kosten zu reduzieren.
Offenbar zu viel für die Staatsanwaltschaft, die nun mit Verdacht auf Drogenhandel ermittelt. H. bestreitet den Vorwurf kategorisch: „Ich habe es satt, kriminalisiert zu werden! Ich habe nie verkauft und will nichts mit dem Schwarzmarkt zu tun haben.“
Sollte es zur Anklage kommen, riskiert H. im Mindestfall ein Jahr Gefängnis und eine Geldstrafe von 500 Euro. Seinen Ausbildungsjob sowie seine Nebentätigkeit hat er aufgrund seiner erneuten Probleme mit der Justiz ebenfalls verloren, seine weiteren Aussichten sind nicht gut: „Ohne Führerschein und mit Vorstrafe habe ich keine Chance auf einen Arbeitsplatz.“
Die medizinisch wertvollen Inhaltsstoffe der Cannabispflanze
Tetrahydrocannabinol (THC)
Es handelt sich um den am besten erforschten von Tausenden bekannten Inhaltsstoffen der Cannabispflanze, der mit 90 Prozent den Großteil der Stofffamilie der Cannabinoide stellt. THC ist nicht nur für die psychotropen, also berauschenden Eigenschaften verantwortlich, sondern auch für einen Großteil der medizinischen Effekte. Das THC-Molekül bindet sich an die körpereigenen CB1-Rezeptoren im zentralen Nervensystem und Immunsystem und wirkt dadurch schmerzstillend, appetitfördernd und entspannend. In seiner Säureform THCA wirkt es krampflösend und entzündungshemmend. Beide Stoffe sind nützlich bei der Behandlung von Alzheimer, Arthritis, Fibromyalgie, chronischen Schmerzen, Multipler Sklerose, Tourette und Morbus Crohn. THC tötet zudem Krebszellen.
Cannabidiol (CBD)
Cannabidiol ist das zweitwichtigste Cannabinoid der Pflanze. Es ruft keine psychoaktive Wirkung hervor, wirkt aber beruhigend, antirheumatisch, Angst lösend, antipsychotisch und antikonvulsiv. CBD kann aus Cannabispflanzen gewonnen werden, die weniger als 0,3 Prozent THC enthalten, womit deren Anbau auch in Luxemburg erlaubt ist. Der Stoff hat vielversprechende Ergebnisse gezeigt in der Behandlung von Epilepsie, Glaukomen, Multipler Sklerose, neuropathischen Schmerzen und neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson. Ebenfalls wirksam ist es bei Depressionen, ADS/ADHS, Angststörungen, Affektiven Störungen, Depressionen und Schizophrenie. CBD soll zudem die Ausbreitung von Krebszellen im Körper und die Metastasenbildung verhindern.
Andere Cannabinoide
Die Cannabispflanze enthält über 480 bisher identifizierte Cannabinoide. Neben THC und CBD zählen Cannabinol (CBN) und Cannabichromen (CBC) zu den beiden wichtigeren Cannabinoiden, die in geringeren Mengen in der Pflanze enthalten sind. CBN ist ein Abbauprodukt von THC, das entsteht, wenn diese Licht und Sauerstoff ausgesetzt wird. Es mildert die Wirkung des THC und wirkt im Gegensatz zu Letzterem eher beruhigend. Während THC das „High“ beim Cannabiskonsum bewirkt, macht CBN „stoned“, d. h. es wirkt sedierend. CBN hat etwa eine dreifach stärkere schmerzstillende Wirkung als Aspirin und hilft gegen Glaukom, Entzündungen und Schlaflosigkeit. CBC wirkt, besonders in Verbindung mit THC, antibakteriell, entzündungshemmend und hilft bei Migräne.
Terpene
Die Terpene stellen neben den Cannabinoiden die zweite große Stofffamilie unter den Inhaltsstoffen der Cannabispflanze dar und machen rund 10 bis 30 Prozent der aktiven Komponenten der Pflanze aus. Es handelt sich um Duft- und Aromastoffe, die auch in vielen anderen Pflanzen, wie etwa Früchten und Heilkräutern, enthalten sind. Terpene werden für den so genannten „Entourage-Effekt“ verantwortlich gemacht. Gemeint ist damit die Tatsache, dass unterschiedliche Cannabissorten unterschiedliche Wirkungen zeigen, obschon sie sich kaum in ihrem Cannabinoidgehalt unterscheiden. Terpene wie Myrcen, Beta-Caryophyllene, Limonen, A-Pinen und Linalool wirken entspannend, antidepressiv, krampflösend, beruhigend, entzündungshemmend, immunstärkend und pilztötend.
Flavonoide und Fettsäuren
Cannabis enthält neben Cannabinoiden und Terpenen auch einen hohen Anteil an Flavonoiden, die in der Pflanzenwelt vor allem als Farbstoffe sowie als Lockstoffe und Fraßschutz gegen Insekten bekannt sind. Ihnen wird eine antioxidative Wirkung zugeschrieben, womit sie im Kampf gegen Krebszellen und deren Entstehung nützlich macht. Flavonoide senken zudem das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Vor allem die Cannabissamen enthalten einen außergewöhnlich hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren, darunter Linolsäure, Alpha- und Gammalinolensäure und Omega-6-Fettsäure. Hanföl gilt dadurch als ernährungsphysiologisch besonders wertvoll und gesund. Es zeigt zudem bei äußerlicher Anwendung eine günstige Wirkung bei entzündlichen Hauterkrankungen.