
Chiles Marihuana-Mütter brechen das Gesetz, weil ihre epileptischen Kinder nicht leiden sollen
In Chile verstoßen rund 100 verzweifelte Eltern wissentlich gegen das Gesetz, indem sie Marihuana anpflanzen. Es ist für sie der absolut letzte Ausweg. Sie wissen sich nicht anders zu helfen, wenn sie ihren von Epilepsie geplagten Kindern mörderische Schmerzen ersparen wollen. Legal ist das nicht, aber sie sehen keinen anderen Weg, denn der Staat ist keine Hilfe. Die Gründe für ihr Tun sind ganz einfach: Traditionelle Medikamente wirken nicht und sind dazu auch noch um ein Vielfaches teurer.
Eine Mutter war so verzweifelt, dass sie, wie sie sagt, kurz davor war, mit ihrer Tochter über die Klippe zu fahren. »Ich wollte nur noch gemeinsam mit ihr sterben«, erzählte die 34-jährige Paulina Bobadilla der Nachrichtenagentur AP. Medikamentös seien die epileptischen Anfälle ihrer Tochter nicht mehr in den Griff zu bekommen gewesen. Das Kind hatte derart starke Schmerzen, dass es sich die eigenen Nägel herausriss, nur um an anderen Stellen weniger Schmerz zu spüren.
An dem Tag im April 2013 verhinderte nur ihre Tochter, dass Bobadilla sich und das Kind umbrachte. »Mami, ich hab dich lieb«, sagte die Kleine. »Ich sah sie an und wusste, ich musste weiterkämpfen«, erzählte Bobadilla.
Auch andere Eltern können ihre Kinder nicht leiden sehen, während sie auf Hilfe vom Kongress warten. Deshalb schlossen sie sich zum Kollektiv Mama Cultiva (»Mama baut an«) zusammen. Die Gruppe tritt für die medizinische Nutzung von Marihuana ein und ignoriert die Gefahr möglicher Haftstrafen. Die Eltern haben sich auf die Fahnen geschrieben, anderen alles Notwendige für den Anbau von Marihuana beizubringen und ihre Kinder vor Schmerzen zu schützen.
Sie bauen Hanfpflanzen in den Gärten hinter ihren Häusern an, um Haschischöl zu gewinnen. In der Forschung findet ihr Vorgehen wachsende Rückendeckung: Immer mehr Wissenschaftler loben die therapeutische Wirkung des Öls bei einer ganzen Bandbreite von Erkrankungen, bei denen traditionelle Ansätze versagen.
Zum Teil geht es auch gar nicht darum, dass Haschischöl einen größeren Nutzen als die traditionellen Medikamente haben könnte – Bobadilla beispielsweise tat sich schwer, die 650 Euro im Monat aufzubringen, die die zugelassenen Mittel kosteten … und die die Schmerzen ihrer Tochter beileibe nicht ausreichend in den Griff bekamen. Was kostet die Herstellung einer großen Quantität Haschischöl? Etwa 80 Euro, also ein Achtel. Und die Eltern sagen, das Öl biete tatsächlich Vorteile.
Wir sind eine Gruppe von Müttern, deren Kinder an refraktärer Epilepsie leiden. Wir arbeiten mit der Daya Foundation zusammen und haben beschlossen, Haschischöl zu nutzen«, heißt es in der Absichtserklärung auf der der Gruppe. Es gehe ihnen keineswegs um kommerzielle Gedanken. Der Anbau und die Ölgewinnung werden ausschließlich von der Gruppe durchgeführt und die Organisation existiere einzig, um das Wissen weiterzugeben.
Für den Augenblick müssen sich die Mitglieder im Geheimen treffen, auch wenn es kein Geheimnis ist, dass die Mitglieder Hanf in ihren Gärten anbauen. Die Strafe dafür beträgt bis zu 15 Jahre Gefängnis. Chilenisches Gesetz erlaubt einzig den Konsum von Marihuana, aber nicht die Produktion.
Ihr kranker Sohn schreie vor Schmerzen, sagt Susana, die aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung ihren Nachnamen nicht nennen wollte. Als ob sie nicht schon geplagt genug sei, wurde sie auch noch von einem Dealer aufs Kreuz gelegt, obwohl sie ihm erklärt hatte, dass die Pflanzen für ihren kranken Sohn seien – er verkaufte ihr männliche Hanfpflanzen, aber aus denen lässt sich das Öl nicht gewinnen.
Die 23-jährige Gabriela Reyes hat ein sieben Monate altes Kind, das sein gesamtes bisheriges Leben im Krankenhaus verbracht hat: Das Mädchen hat bis zu 300 epileptische Anfälle pro Tag. Gabriela eignete sich etwas Wissen über die Ölgewinnung an und fügte dem Fläschchen ihrer Tochter einige Tropfen Öl bei. Das Resultat: Die Zahl der Anfälle fiel auf nur noch zwölf pro Tag.
Alle Eltern berichten, dass ihre Kinder nun besser schlafen würden und dass positive Ergebnisse schon binnen einer Woche zu bemerken seien. Chiles Regierung hat Marihuana für eine Studie zugelassen, bei der untersucht wurde, inwieweit sich die Schmerzen bei erwachsenen Krebspatienten senken lassen, aber leider durfte Mama Cultiva sich nicht an dem Programm beteiligen. Begründung: Die Gruppe konzentriere sich auf Kinder!
Bei rund 15 000 chilenischen Kindern scheinen die zugelassenen Medikamente überhaupt nicht zu wirken, aber dennoch ist die Regierung nicht bereit einzulenken. Die Gesundheitsbehörden und angeschlossenen Einrichtungen erklären, die Beweise für einen medizinischen Nutzen von Marihuana seien nicht ausreichend, um staatliche Programme zu rechtfertigen. Vielmehr würden die Fakten, die für schädliche Folgen sprechen, den Nutzen weiterhin deutlich überwiegen.
Das sehen die Eltern der schmerzgeplagten Kinder ganz anders. Sie haben vor, weiterhin das Gesetz zu brechen, während Big Pharma Druck ausübt. »Wir müssen dafür sorgen, dass die Rechte der Nutzer und Patienten auf bezahlbare Medizin garantiert wird, bevor sich die Pharma-Industrie alles unter den Nagel reißt«, sagte Ana Maria Gazmurri, die Präsidentin der nicht-gewinnorientierten Daya Foundation, die Mama Cultiva unterstützt.