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Cannabis als Medizin bei chronischen Schmerzen von Patienten mit Post-Polio-Syndrom

(Von Dr. med. Peter Brauer (Polio-Forum)

Dr. Peter Brauer, Ärztlicher Beirat bei der Polio Selbsthilfe e.V., stellte eine Übersicht zum möglichen therapeutischen Nutzen von Cannabisprodukten bei Menschen mit Post-Polio-Syndrom vor.

Problem
Patienten mit chronischen Schmerzen, auch Polio-Überlebende, sind bei Anwendung aller legalen Schmerzmittel auch in Deutschland weitgehend unterversorgt. Selbst eine solche Behandlung durch dafür als kompetent ausgewiesene Mediziner löst viele Probleme dieser Patienten nicht. Die so verwendeten Arzneimittel sind neben möglichen akuten Unverträglichkeiten nämlich auf Dauer mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden, die den Gesundheitszustand weiter verschlechtern können, oder aber, sie zeigen keine ausreichende beziehungsweise gar keine Wirkung.

Cannabis
Medizinhistorisch ist Cannabis als wirksame Arznei unter anderem zur Behandlung von Schmerzzuständen bekannt. Erst in geschichtlich neuerer Zeit wurde es aus wirtschaftspolitischen Gründen (WIEBE/GOTTWALD) verbreitet in die Kategorie der illegalen Drogen verbannt, so auch in Deutschland. Wenn hier seine Nutzung befürwortet werden soll, bezieht sich das ausschließlich auf die Anwendung als Medizin, beim Post-Polio-Syndrom insbesondere zur Behandlung chronischer Schmerzen. Wenn der zeitweilige moderate Gebrauch von Cannabis schon bei gesunden Personen wissenschaftlich als unbedenklich eingeschätzt wird, sollte einer den Opiaten oder anderen Mitteln vergleichbaren medizinischen Anwendung eigentlich nichts mehr im Wege stehen.

Jede notwendige medizinische Behandlung, auch die medikamentöse, ist im Hinblick auf unerwünschte Wirkungen eine Abwägung zwischen gewünschtem Nutzen und möglichem Schaden. Das unterscheidet den vorgenannten Gebrauch des Cannabis schon einmal von seiner Genussanwendung. Letztere ist nicht erforderlich, umfänglich nicht kontrollierbar, deshalb missbrauchsgefährdet und dadurch mit dem Risiko einer Gesundheitsgefährdung verbunden. Der Einsatz als Schmerzmittel dagegen ist wie jede andere Medikation eine medizinische Notwendigkeit.

Cannabis macht im Sinne einer körperlichen Abhängigkeit nicht süchtig. Das Auftreten einer psychischen Abhängigkeit liegt bei etwa 8 Prozent, im Vergleich dazu als legale Drogen die von Nikotin bis zu 50 Prozent und die von Alkohol bis zu 15 Prozent. (KLEIBER-Studie) Cannabis erlaubt in seiner medizinischen Anwendung zur wirksamen Schmerzbehandlung eine relativ niedrige Dosierung unterhalb der psychisch veränderte Reaktionen auslösenden Schwelle. Naturextrakte haben gegenüber den synthetisch veränderten Auszügen den großen Vorteil einer klinisch weitgehend nebenwirkungsarmen bis nebenwirkungsfreien Anwendung. Das verdanken sie vor allem der Zusammensetzung aus einer Vielzahl von verschiedenen Inhaltsstoffen, die sich in ihrer durchaus differenzierten Wirkung gegenseitig ergänzen, dabei aber im Extrakt einzeln in einer relativ geringen Menge vorliegen. Diese differenzierte Wirkung gilt es auszunutzen und entsprechende Cannabissorten zur Herstellung geeigneter Medikamente für unterschiedliche Indikationen zu züchten, was in der Praxis auch bereits geschieht, wobei an erster Stelle die Unterdrückung unerwünschter psychotroper Effekte steht. In dieser Beziehung hat sich Cannabidiol (CBD) gegenüber dem ungünstigen Tetrahydrocannabinol (THC) als medizinisch bedeutsam herausgestellt.

Post-Polio-Syndrom
Das Post-Polio-Syndrom ist nicht heilbar und als neurologische Verschleißerkrankung nur in engen Grenzen symptomatisch behandelbar. Es kann in unterschiedlicher Stärke und Kombination die Regulationen von Motorik, Hirnaktivität, Schmerzen, Atmung, Herz-Kreislauf-System, Hormonhaushalt, Temperatur, Stress und Emotionalität betreffen. Die Besonderheiten dieser chronisch fortschreitenden Erkrankung als Spätfolge einer Polio-Encephalo-Myelitis, auch Kinderlähmung genannt, bestimmen die Auswahl der für eine symptomatische Therapie notwendigen Medikamente. Eine Reihe von Arzneistoffen wird auf Grund von poliobedingten Schäden im Zentral-Nerven-System nicht vertragen und kann auf diese Weise ein Post-Polio-Syndrom sogar auslösen oder verschlimmern, weil sie auf eine geschädigte Struktur trifft, ist also in keiner Weise unproblematisch. Dazu gehören unter anderem beispielsweise Beta-Blocker, Cholesterinsenker, Muskelrelaxantien, Narkotika, Anästhetika, Opiate, Psychopharmaka (Antidepressiva, Neuroleptika, Sedativa, Tranquilizer/Benzodiazepine) und einige Antibiotika.

Nun werden zur Schmerzbekämpfung beim Post-Polio-Syndrom häufig Opiate und Psychopharmaka mit teilweise katastrophalen Folgen eingesetzt. Die Anwendung von Psychopharmaka bei Polio-Überlebenden unter psychiatrischen Fehldiagnosen hat verheerende Folgen, wie der Fall Vera Stein gezeigt hat. Selbst die herkömmlichen Schmerzmittel sind wegen ihrer Nebenwirkungen in ihrer Daueranwendung bei chronischen Schmerzzuständen nicht ungefährlich und in der Regel beim Post-Polio-Syndrom nicht wirksam oder nicht ausreichend wirksam. Sie führen über einen mehr oder weniger langen Zeitraum zu Magen-Darm-Schäden, Nierenschäden oder Leberschäden sowie zur Auslösung und Verstärkung des Post-Polio-Syndroms. Deshalb muss die Verordnungsmöglichkeit von Cannabis auf diese Polio-Spätfolge ausgeweitet, als Erstmedikation zugelassen, nicht von einer anderweitig vergeblichen Vorbehandlung abhängig gemacht und als Leistung der Krankenkassen zugänglich werden. Der Einwand, Cannabis würde sich beim Post-Polio-Syndrom im Hinblick auf Muskelschwächen oder Lähmungen ungünstig verstärkend auswirken, ist als vorgeschoben zu betrachten. Dafür gibt es keine schlüssigen Beweise. Er steht zudem auch im Widerspruch zur alltäglichen Praxis der Schmerztherapie, die auf die gleichermaßen viel stärkeren Nebenwirkungen bei zum Beispiel den relativ unkritisch verordneten Opiaten und Psychopharmaka keinerlei Rücksicht nimmt und sogar eine Suchtgefährdung in Kauf nimmt, ja die Patienten oft psychiatrisiert. Nicht zu vergessen ist, das Post-Polio-Syndrom weist in seinem Krankheitsbild eine Kombination peripherer wie zentraler Komponenten auf, auch bei der Schmerzregulation. Cannabis kommt mit seiner Wirkung den körpereigenen Morphinen, den Endorphinen als Schmerzhemmer am nächsten und ist damit, wenn überhaupt, selbst in seiner Langzeitanwendung am wenigsten schädlich. Außerdem gibt es dazu keine bessere Alternative.

Die Forderungen nach Studien, welche Wirkung, Nutzen und Unschädlichkeit beim Post-Polo-Syndrom belegen, ist absurd, solange Cannabis bei dieser Diagnose als Medikament nicht zugelassen ist. Selbst dann noch lassen sich wegen der Individualität der Polio-Spätfolge außer der Risikospanne keine beweiskräftig auf den Einzelfall zu verallgemeinernde Schlussfolgerungen ziehen. Angesichts der unterschiedlichen Kausalität und der different gezielten Problembehandlung beider Erkrankungen sind Erkenntnisse aus der Anwendung bei der Multiplen Sklerose nicht ohne weiteres auf das Post-Polio-Syndrom übertragbar. Forderungen nach Studien an die potenziellen Hersteller von Cannabisarzneien zu stellen, ist angesichts der jahrhundertelang bis in die Gegenwart nachgewiesenen Wirksamkeit als Schmerzbekämpfungsmittel ein Irrsinn. Zudem drängen nicht die Produzenten damit neu auf den Markt, sondern die Mediziner erheben die Forderung nach ihrem begründeten Einsatz, dem die Pharmaindustrie auf Grunde der medizinjuristischen Problematik nur zögerlich folgt. Einer neuerlichen medizinischen Beweisführung als Voraussetzung für seine grundsätzliche und differenzierte Anwendung bedarf es mit Sicherheit nicht. Außerdem ist sie allgemein in hinreichenden Ansätzen global schon vorhanden und muss von vornherein keineswegs auf eine bestimmte Schmerzpatientengruppe zugeschnitten sein.

Der Einsatz von Cannabis zur Behandlung chronischer Schmerzen beim Post-Polio-Syndrom bedeutet nicht die Vernachlässigung weiterer symptomatischer Heilmaßnahmen wie zum Beispiel die angepasste Physiotherapie oder die prophylaktische Verordnung der erforderlichen Hilfsmittel, die zur Linderung von Schmerzzuständen beitragen können. Von ihnen alleine ist allerdings eine effektive Schmerzbeeinflussung auf Dauer nicht zu erwarten.

Völlig inakzeptabel ist die Einstellung, es handle sich bei den chronischen Schmerzpatienten, die eine Behandlung mit Cannabis benötigen, um Einzelfälle, also Ausnahmen. Damit wäre um so weniger zu verstehen, warum gerade bei diesen Ausnahmen so restriktiv verfahren wird und die Kosten für diese Therapie nicht von den Krankenkassen übernommen werden. Es ist ohnehin ein Unding, eine medizinische Behandlung nach der Häufigkeit des Krankheitsgeschehens auszurichten. Jeder einzelne Patient ist es wert, nicht nur behandelt, sondern effektiv nebenwirkungsarm zur Verbesserung seiner Lebensqualität, die bei chronischen Schmerzen im Minusbereich angesiedelt ist, behandelt zu werden.

Fazit
Da die Klassifikation von Cannabis als illegale Droge eine politische Entscheidung in der Vergangenheit war, kann sie wirksam im Sinne einer Anerkennung wie Handhabung als Medizin auch nur politisch geändert werden. Alle anderen Aktivitäten der beteiligten Parteien verlieren sich in einem emotional übertrieben geführten Kleinkrieg, der nur allzu häufig die notwendige Sachlichkeit vermissen lässt. Leider werden in der Auseinandersetzung seitens der Gegner einer medizinischen Verwendung von Cannabis immer wieder unzulässigerweise Bedenken, die sich aus der Freigabe zum allgemeinen Konsum ergeben könnten, als Totschlagargumente angeführt. Es gibt kein einziges vernünftiges Argument gegen den Einsatz von Cannabis als Medizin, vor allem nicht auf dem Sektor der chronischen Schmerzbekämpfung. Das Vorenthalten einer solchen therapeutischen Möglichkeit lässt betroffene Patienten, und das sind nicht wenige, unnötig leiden, was mit einer menschenwürdigen Behandlung nicht vereinbar.

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